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Der Mensch ist veranlagt, aber nicht vorherbestimmt. Seine Psyche wurzelt in biologischen Strukturen, aber wird in der Welt kultiviert und verändert sich dadurch ständig - heute vielleicht schneller als je zuvor. Es ist selten offensichtlich, ob psychisches Leiden auf die Veranlagung eines Individuums zurückzuführen ist, oder ob es Veränderungen in der Welt bedarf, damit sich darin alle Menschen zuhause fühlen können. Auf dieser Seite möchte ich ein paar Psychologen zitieren und einige Gedanken ausführen, um anzudeuten, unter welchen Bedingungen sich unsere Psyche entwickelt und wie wir diese Entwicklung beeinflussen können.
Der Mensch ist anpassungsfähig und kann unter den widrigsten Bedingungen überleben, aber um gut zu leben und sein Potenzial auszuschöpfen, braucht er ein förderliches Lebensumfeld. Die Frage ist, wie ähnlich sich Menschen hinsichtlich ihrer psychischen Bedürfnisse sind und ob es unter allen gesellschaftlichen Bedingungen möglich ist, gesund zu leben. Erich Fromm, ein Psychologe, der in der Mitte des letzen Jahrhunderts gelebt und geschrieben hat, vertrat die Ansicht, dass alle Menschen psychische Grundbedürfnisse haben, mit denen sie unterschiedlich umgehen, wobei klar zwischen besseren und schlechteren Wegen unterschieden werden kann. Er bezeichnete diesen Ansatz als “Normativen Humanismus” (alle nachfolgenden Zitaten stammen aus seinem Buch “Wege aus einer kranken Gesellschaft” das in Auszügen auch in meiner Datenbank enthalten ist und darin semantisch durchsucht werden kann).
Normativer Humanismus
Der Ansatz des normativen Humanismus gründet sich auf die Annahme, dass es - genau wie bei jedem anderen Problem auch - richtige und falsche, befriedigende und unbefriedigende Lösungen für das Problem der menschlichen Existenz gibt. Seelische Gesundheit kommt zustande, wenn sich der Mensch entsprechend den charakteristischen Eigenschaften und Gesetzen der menschlichen Natur zur vollen Reife entwickelt. Zur psychischen Erkrankung kommt es, wenn diese Entwicklung fehlschlägt. Unter dieser Voraussetzung ist das Kriterium für die seelische Gesundheit nicht, dass der einzelne an eine bestimmte Gesellschaftsordnung angepasst ist, sondern es handelt sich um ein universales, für alle Menschen gültiges Kriterium, dass sie nämlich für das Problem der menschlichen Existenz eine befriedigende Antwort finden.
Fromm identifizierte Bedürfnisse wie Bezogenheit, Vewurzelung, Identitätserleben und Orientierung und jeweils gesunde und ungesunde Möglichkeiten, sie zu befriedigen. Es ist wichtig zu beachten, dass es sich dabei nicht um eine wissenschaftliche Theorie handelt und er kein mechanistisches Modell der Psyche anbietet, sondern seine Ideen haben eher den Charakter von Arbeitshypothesen, die ihn wahrscheinlich in seiner Tätigkeit als Therapeut geleitet haben.
Psychische Bedürfnisse nach Fromm
Bezogenheit durch Liebe oder Narzissmus
Liebe ist die Erfahrung des Teilens, der Gemeinschaft, die die volle Entfaltung des eigenen inneren Tätigseins erlaubt. Das Erlebnis der Liebe macht Illusionen überflüssig. Ich habe es nicht mehr nötig, das Bild des anderen oder das eigene Image aufzublähen, da die Realität des gelebten Teilens und Liebens es mir ermöglicht, mein vereinzeltes Dasein zu transzendieren und gleichzeitig mich als das Subjekt jener Kräfte zu erleben, die den Akt des Liebens ausmachen. Worauf es ankommt, ist die besondere Qualität des Liebens und nicht das Objekt der Liebe. […]Man versteht das Bedürfnis des Menschen, bezogen zu sein, nur dann ganz, wenn man sich die Folgen vor Augen hält, die ein Scheitern jeder Art von Bezogenheit nach sich zieht, das heißt, wenn man die Bedeutung des Narzissmus begreift. […] Für den narzisstischen Menschen gibt es nur eine Realität: die seiner eigenen Denkprozesse, Gefühle und Bedürfnisse. Er erlebt die Außenwelt nicht objektiv, er nimmt sie nicht objektiv wahr, das heißt nicht als etwas mit einem eigenen Standpunkt, mit eigenen Bedingungen und Bedürfnissen. Die extremste Form des Narzissmus findet man in sämtlichen Formen von Geisteskrankheit. Der Geisteskranke hat den Kontakt mit der Welt verloren; er hat sich in sich selbst zurückgezogen. Er kann weder die materielle noch die menschliche Wirklichkeit so erfahren, wie sie ist, sondern nur so, wie seine eigenen inneren Prozesse sie formen und bestimmen. Entweder reagiert er überhaupt nicht auf die Außenwelt, oder wenn er es tut, reagiert er nicht entsprechend ihrer Realität, sondern entsprechend seinen eigenen Denk- und Gefühlsprozessen. Der Narzissmus ist der Gegenpol zu Objektivität, Vernunft und Liebe. Die Tatsache, dass ein völliges Scheitern der Bezogenheit auf die Welt zur Geisteskrankheit (Psychose) führt, weist auf die andere Tatsache hin: dass irgendeine Form von Bezogenheit die Voraussetzung dafür ist, überhaupt seelisch gesund zu leben.
Transzendenz durch Kreativität oder Destruktivität
Im Schöpfungsakt transzendiert der Mensch sich selbst als Geschöpf, erhebt er sich über die Passivität und Zufälligkeit seiner Existenz in den Bereich der Zielgerichtetheit und Freiheit. Im Bedürfnis des Menschen nach Transzendenz liegt eine der Wurzeln der Liebe wie auch der Kunst, der Religion und der materiellen Produktion.Etwas zu schaffen setzt Tätigsein und Fürsorge voraus. Es setzt voraus, dass man das liebt, was man schafft. Wie sonst könnte der Mensch das Problem, sich zu transzendieren, lösen, wenn nicht durch die Fähigkeit, schöpferisch zu sein und zu lieben? Es gibt noch eine andere Antwort auf dieses Bedürfnis nach Transzendenz: Wenn ich kein Leben schaffen kann, dann kann ich es zerstören. Auch indem ich das Leben zerstöre, kann ich es transzendieren. […] Aber - und das ist der wesentliche Punkt, auf den ich hinaus will - sie ist nur die Alternative zu seiner Kreativität. Schaffen und Zerstören, Lieben und Hassen sind nicht zwei unabhängig voneinander existierende Größen. Es sind beides Antworten auf das gleiche Bedürfnis nach Transzendenz. Der Wille zu zerstören muss entstehen, wenn der Wille, etwas zu schaffen, nicht befriedigt werden kann.
Verwurzelung durch Brüderlichkeit oder Inzest
Die Geburt des Menschen als Menschen ist der Anfang seines Ausgangs aus seiner natürlichen Heimat, der Anfang der Lösung aus seinen natürlichen Bindungen. Aber diese Loslösung ist Angst erregend. Wenn der Mensch seine natürlichen Wurzeln verliert, wo befindet er sich dann, und wer ist er? Er würde allein stehen, ohne eine Heimat. Er wäre wurzellos und könnte die Isolierung und Hilflosigkeit seiner Lage nicht ertragen. Er würde wahnsinnig. Auf seine natürlichen Wurzeln kann er nur verzichten, wenn er neue menschliche Wurzeln findet, und nur nachdem er diese menschliche Verwurzelung gefunden hat, kann er sich wieder in der Welt zu Hause fühlen. Ist es demnach verwunderlich, dass wir beim Menschen eine tiefe Sehnsucht feststellen, die natürlichen Bedingungen nicht abzubrechen und sich dagegen zu wehren, von der Natur, der Mutter, dem Blut und dem Boden hinweggerissen zu werden? […]Das Inzestproblem beschränkt sich nicht auf die Bindung an die Mutter. Die Bindung an sie ist nur die elementarste Form aller natürlichen Blutsbindungen, die dem Menschen das Gefühl des Verwurzeltseins und der Zugehörigkeit geben. Die Blutsbindungen werden auch auf andere Blutsverwandtschaften ausgedehnt, die jeweils dem System entsprechen, in dem solche Beziehungen angeknüpft werden. Die Familie und die Sippe und später der Staat, die Nation oder die Kirche übernehmen die gleiche Funktion, welche die individuelle Mutter ursprünglich für das Kind hatte. Der Einzelne lehnt sich dann an diese Institutionen an, er fühlt sich darin verwurzelt, er identifiziert sich mit ihnen und fühlt sich als Teil von ihnen und nicht als ein von ihnen getrenntes Individuum. Wer nicht zur gleichen Sippe gehört, wird als fremd und gefährlich angesehen als jemand, der nicht die gleichen menschlichen Eigenschaften besitzt, wie sie nur die eigene Sippe hat.
Identitätserleben durch Individualität oder Herdenkonformität
Die westliche Kultur entwickelte sich so, dass sie die Grundlage für eine volle Erfahrung der Individualität schuf. Durch die politische und wirtschaftliche Befreiung des Individuums, durch seine Erziehung zu selbständigem Denken und seine Befreiung von jedem autoritären Druck hoffte man jeden Einzelnen in die Lage zu versetzen, sich in dem Sinn als „Ich“ zu fühlen, dass er der Mittelpunkt und das tätige Subjekt seiner Kräfte war und sich auch so fühlte. Aber nur eine Minderheit gelangte zu dieser neuen Erfahrung des „Ich“. Für die meisten war der Individualismus nicht viel mehr als eine Fassade, hinter der man verbarg, dass es einem nicht gelungen war, zu einem individuellen Identitätserleben zu gelangen.Es wurden mancherlei Ersatzlösungen für ein echtes individuelles Identitätserleben gesucht und auch gefunden. Nation, Religion, Klasse und Beruf dienen als Lieferanten dieses Identitätsgefühls. „Ich bin Amerikaner“, „ich bin Protestant“, „ich bin Geschäftsmann“, das sind die Formeln, die zu einem Identitätsgefühl verhelfen, nachdem die ursprüngliche Klan-Identität verlorenging, und bevor man sich ein echtes individuelles Identitätsgefühl erworben hat.
Suche nach einem Rahmen der Orientierung durch Vernunft oder durch Irrationalität
Das Bedürfnis nach einem Rahmen der Orientierung besteht auf zwei Ebenen. Das erste und grundlegendere Bedürfnis ist, überhaupt irgendeinen Orientierungsrahmen zu besitzen, gleichgültig, ob er richtig oder falsch ist. Wenn der Mensch keinen solchen subjektiv befriedigenden Orientierungsrahmen besitzt, kann er nicht in seelischer Gesundheit leben. Auf der zweiten Ebene besteht das Bedürfnis, mit Hilfe seiner Vernunft mit der Realität in Kontakt zu kommen, die Welt objektiv zu begreifen. […]Je weiter sich seine Vernunft entwickelt, umso angemessener wird sein Orientierungssystem, das heißt umso näher kommt es der Realität. Aber selbst wenn der Orientierungssinn eines Menschen völlig illusorisch ist, so befriedigt er doch sein Bedürfnis, sich ein Bild zu machen, das für ihn einen Sinn hat.
Fromm steht in der Tradition der Psychoanalyse und viele seiner Begriffe kommen uns heute fremd vor oder werden in der zeitgenössischen psychologischen Literatur anders verwendet (z. B. Narzissmus). Die abstrakten Begriffe der psychischen Bedürfnisse wie Bezogenheit, Identität und Orientierung zeigen auf derart fundamentale Aspekte der menschlichen Erfahrung, dass sie einem erstmal banal vorkommen. Von Geburt an stehen wir in Bezug zu anderen Menschen und haben eine Identität und irgendwie müssen wir uns immer in der Welt orientieren. Vielleicht nehmen wir sie deshalb nichtmal als Bedürfnisse wahr, weil wir sie zwangsläufig immer irgendwie befriedigen. Die Überlegung, dass fundamentale psychische Bedürfnisse auf unterschiedliche Arten befriedigt werden können, die einem Individuum nicht gleichermaßen guttun, scheint ebenfalls plausibel.
Eine Frage der Anpassung
Der Begriff der seelischen Gesundheit oder der Reife ist ein objektiver Begriff, zu dem wir durch die Untersuchung der „Situation des Menschen“ und der sich daraus ergebenden menschlichen Notwendigkeiten und Bedürfnisse gelangt sind. [Hieraus folgt], dass man die seelische Gesundheit nicht als „Anpassung“ des Einzelnen an die Gesellschaft definieren kann, sondern dass man sie ganz im Gegenteil als die Anpassung der Gesellschaft an die Bedürfnisse des Menschen definieren muss und dass es dabei darum geht, ob die Gesellschaft ihre Rolle erfüllt, die Entwicklung der seelischen Gesundheit zu fördern, oder ob sie dieser Entwicklung hinderlich ist.
Gesundheit lässt sich einfach als die Abwesenheit von Krankheit verstehen, sodass im Fall einer akuten Erkrankung auch die Gesundung leicht als Überwindung der Krankheit zu verstehen ist. Krankheit hat viele Namen, Gesundheit nur einen. Aber vielleicht liegt hier schon ein Missverständnis vor und eine Normal-Gesundheit der Psyche gibt es nicht? Die nachfolgenden Zitate sind Aphorismen von Friedrich Nietzsche, aus den Büchern “Morgenröthe” und “Die fröhliche Wissenschaft”.
Die Gesundheit der Seele
Die beliebte medizinische Moralformel: „Tugend ist die Gesundheit der Seele" — müsste wenigstens, um brauchbar zu sein, dahin abgeändert werden: „deine Tugend ist die Gesundheit deiner Seele". Denn eine Gesundheit an sich giebt es nicht, und alle Versuche, ein Ding derart zu definieren, sind kläglich missrathen. Es kommt auf dein Ziel, deinen Horizont, deine Kräfte, deine Antriebe, deine Irrthümer und namentlich auf die Ideale und Phantasmen deiner Seele an, um zu bestimmen, was selbst für deinen Leib Gesundheit zu bedeuten habe. Somit giebt es unzählige Gesundheiten des Leibes; und je mehr man dem Einzelnen und Unvergleichlichen wieder erlaubt, sein Haupt zu erheben, je mehr man das Dogma von der „Gleichheit der Menschen" verlernt, um so mehr muss auch der Begriff einer Normal-Gesundheit, nebst Normal-Diät, Normal-Verlauf der Erkrankung unsern Medizinern abhanden kommen. Und dann erst dürfte es an der Zeit sein, über Gesundheit und Krankheit der Seele nachzudenken und die eigenthümliche Tugend eines Jeden in deren Gesundheit zu setzen: welche freilich bei dem Einen so aussehen könnte wie der Gegensatz der Gesundheit bei einem Anderen. Zuletzt bliebe noch die grosse Frage offen, ob wir der Erkrankung entbehren könnten, selbst zur Entwickelung unserer Tugend, und ob nicht namentlich unser Durst nach Erkenntniss und Selbsterkenntniss der kranken Seele so gut bedürfe als der gesunden: kurz, ob nicht der alleinige Wille zur Gesundheit ein Vorurtheil, eine Feigheit und vielleicht ein Stück feinster Barbarei und Rückständigkeit sei.
Es scheint mir auf jeden Fall fragwürdig, inwieweit uns die Sprache der Medizin hilft, psychische Störungen zu beschreiben, und wo sie unser Verständnis limitert.
Was und frei steht
Man kann wie ein Gärtner mit seinen Trieben schalten und, was Wenige wissen, die Keime des Zornes, des Mitleidens, des Nachgrübelns, der Eitelkeit so fruchtbar und nutzbringend ziehen wie ein schönes Obst an Spalieren; man kann es thun mit dem guten und dem schlechten Geschmack eines Gärtners und gleichsam in französischer oder englischer oder holländischer oder chinesischer Manier, man kann auch die Natur walten lassen und nur hier und da für ein Wenig Schmuck und Reinigung sorgen, man kann endlich auch ohne alles Wissen und Nachdenken die Pflanzen in ihren natürlichen Begünstigungen und Hindernissen aufwachsen und unter sich ihren Kampf auskämpfen lassen, — ja, man kann an einer solchen Wildniss seine Freude haben und gerade diese Freude haben wollen, wenn man auch seine Noth damit hat. Diess Alles steht uns frei: aber wie Viele wissen denn davon, dass uns diess frei steht? Glauben nicht die Meisten an sich wie an vollendete ausgewachsene Thatsachen?
Die große Gesundheit
Wir Neuen, Namenlosen, Schlechtverständlichen, wir Frühgeburten einer noch unbewiesenen Zukunft — wir bedürfen zu einem neuen Zwecke auch eines neuen Mittels, nämlich einer neuen Gesundheit, einer stärkeren gewitzteren zäheren verwegneren lustigeren, als alle Gesundheiten bisher waren. Wessen Seele darnach dürstet, den ganzen Umfang der bisherigen Werte und Wünschbarkeiten erlebt und alle Küsten dieses idealischen „Mittelmeers" umschifft zu haben, wer aus den Abenteuern der eigensten Erfahrung wissen will, wie es einem Eroberer und Entdecker des Ideals zu Mute ist, insgleichen einem Künstler, einem Heiligen, einem Gesetzgeber, einem Weisen, einem Gelehrten, einem Frommen, einem Wahrsager, einem Göttlich-Abseitigen alten Stils: der hat dazu zuallererst Eins nöthig, die große Gesundheit — eine solche, welche man nicht nur hat, sondern auch beständig noch erwirbt und erwerben muss, weil man sie immer wieder preisgiebt, preisgeben muss!… Und nun, nachdem wir lange dergestalt unterwegs waren, wir Argonauten des Ideals, muthiger vielleicht, als klug ist, und oft genug schiffbrüchig und zu Schaden gekommen, aber, wie gesagt, gesünder als man es uns erlauben möchte, gefährlich-gesund, immer wieder gesund, — will es uns scheinen, als ob wir, zum Lohn dafür, ein noch unentdecktes Land vor uns haben, dessen Grenzen noch Niemand abgesehn hat, ein Jenseits aller bisherigen Länder und Winkel des Ideals, eine Welt so überreich an Schönem, Fremdem, Fragwürdigem, Furchtbarem und Göttlichem, dass unsre Neugierde ebensowohl wie unser Besitzdurst ausser sich geraten sind — ach, dass wir nunmehr durch Nichts mehr zu ersättigen sind!